27.02.2022

Ukraine, seufz.

commentary

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Kaum ist die Blogpause verkündet, macht sie auch schon Pause. Zumindest für eine kurze Unterbrechung.

Ich bin natürlich keine Russland/Ukraine - Expertin, aber da ich mich in der Vergangenheit (zuletzt allerdings 2017, also schon eine Weile her) öfter einigermaßen rechthaberisch über den Konflikt geäußert hatte, fühle ich mich verpflichtet, auch jetzt Farbe zu bekennen.


(Für alle, die den ganzen langen Text nicht lesen wollen, habe ich die wichtigen Stellen fett hervorgehoben, die sollten einen beim Scrollen gleich anspringen.)

Dazu muss ich zuallererst gestehen, dass ich mich in den letzten Jahren AKTIV nicht mehr für dieses Thema interessiert hatte, und zwar vor allem deshalb, weil ich irgendwann resigniert und eingesehen habe, dass anscheinend niemand an einer dauerhaften Lösung interessiert ist, sondern alle Parteien irgendwie davon profitieren, alles dahinköcheln zu lassen.

Es wurde auch immer klarer, dass der Westen Putins Russland weiterhin die kalte Schulter zeigen und Putin sich weiter abwenden würde. Dass weiterhin Sicherheitsbedenken belächelt und ignoriert würden (offensichtlich wurde die Ukraine ordentlich aufgerüstet!), dass weiterhin eine Eskalation in Kauf genommen wurde.

Unter diesen Umständen habe ich beschlossen, dass es keinen Sinn macht, mich weiterhin zu sorgen und zu ärgern, und mich abgewendet. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, so oder so.

Daher das aktive Desinteresse. So ist mir beispielsweise völlig entgangen, dass 2019 in der Ukraine ein Schauspieler zum Präsidenten gewählt wurde!


Zur aktuellen Situation:

Ich bin völlig überrascht über das Ausmaß der Aggression Russlands, und wirklich entsetzt. Nie und nimmer hätte ich damit gerechnet, dass das ganze Land angegriffen wird. Ich habe mich geirrt.

Fast alle Experten waren sich wenige Stunden vor Beginn des Angriffs noch sicher, dass es höchstens zu "Hilfsaktionen" im Osten (in den von Putin anerkannten unabhängigen Regionen Donezk und Lugansk) kommen würde, aber niemals zu einem allumfassenden Krieg gegen das ganze Land.

In einer phönix-Runde am Abend des 23. Feber sagte beispielsweise Alexander Rahr, vorgestellt als "einer der führenden Russland-Experten und Putin-Biograf" noch: "Einen großen Krieg mit der Besetzung von Kiew, mit Bombardements kann ich mir nicht vorstellen." Sollte man im Lexikon unter "That did not age well" eintragen.

Zwar hatten die amerikanischen Geheimdienste schon tagelang vor einer Invasion gewarnt, aber die hatten sich in der letzten Zeit auch nicht mit Ruhm bekleckert, wenn man zum Beispiel an den deaströsen Afghanistan - Abzug denkt.


Jetzt stehen alle, die zuvor einen differenzierten Blick auf Putin hatten und einräumten, dass er schon auch nachvollziehbare, berechtigte Sorgen und Bedenken hatte, die man nicht einfach so wegwischen kann, da und fragen sich, ob er den Verstand verloren hat.

"Irrational", hört man immer wieder, und dass er speziell in den letzten beiden Corona-Jahren zunehmend isolierter wurde und überhaupt keinen Widerspruch von engsten Beratern mehr erfahren musste.

Diejenigen, die immer schon überzeugt waren, dass Putin der Teufel sei, fühlen sich natürlich bestätigt.


Ich glaube allerdings noch immer - und da stütze ich mich auch auf das, was Prof. Mangott sagt -, dass der Putin vor 20 Jahren ein anderer war, mit anderen Zielen für sein Land, als der Putin, mit dem wir es jetzt zu tun haben.

Es gab wohl ein Zeitfenster für eine gemeinsame Zukunft mit Russland in den frühen Zweitausender-Jahren, aber viel ist seither passiert, vor allem seit 2014.

Allerdings wird jetzt im Rückblick auch recht offensichtllich, dass die aktuelle Eskalation schon eine ganze Weile vorbereitet war (zunehmende Repressionen und massive Propaganda im Inneren, gezielte Ausschaltung von Gegenmeinungen, öffentlich gemachte, unmögliche Forderungen an Ukraine und NATO, Kriegskasse gut befüllt, Truppenaufmärsche,...) und dass die "Gespräche" keine Sekunde lang ernst gemeint waren.

Mangott sagt auch, dass wir uns, so sehr das aktuelle Verhalten auch absolut nicht entschuldbar ist, früher oder später ernsthaft der Frage widmen sollten, was WIR (= der Westen) falsch gemacht haben. Auch wenn aktuell vermutlich dafür nicht der richtige Zeitpunkt ist. Dem schließe ich mich an.

(Beispielsweise muss man sich fragen, ob es realpolitisch nicht vernünftiger gewesen wäre, die Ukraine neutral zu machen, anstatt - moralisch auf der richtigen Seiten - auf einem Prinzip zu beharren (Selbstbestimmungsrecht bei der Bündniswahl) und dafür in Schönheit zu sterben...?)


Aber zurück zur aktuellen Lage:

Wie schon gesagt, ich bin schockiert und entsetzt. Ich hätte mir das auch in meinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, was da gerade passiert.

Und es sind ja nicht nur die Kampfhandlungen selbst, sondern auch die begleitenden Wortmeldungen, die erschüttern: In diversen Reden und Kommentaren wird Putin nicht müde anzudeuten, dass er, falls der Westen in einer Weise eingreift, die er als "Kriegserklärung" auffasst, zum allerschlimmsten bereit wäre, und daraus schließen wir: Er meint Atomwaffen.

WTF?

Bis vor kurzem waren die Dinge, die Putin gesagt hat, für mich noch einigermaßen nachvollziehbar, was nicht heißt, dass ich die daraus abgeleiteten Konsequenzen gutgeheißen habe. Aber jetzt bin ich am Ende meiner Fähigkeit angelangt, mich in seine Sicht der Dinge hineinzuversetzen.

Denn selbst, wenn ich all die Aussagen Putins über die Sicherheitsbedenken einerseits und seine Meinung zur Ukraine als Staat andererseits kritiklos hinnähme, macht das aktuelle Verhalten mittel- und langfristig für mich keinen Sinn, denn:

Erreicht er mit dieser Aktion (selbst wenn alles nach seinem Wunsch verliefe, was es anscheinend nicht tut!) nicht genau das Gegenteil von dem, was er zu wollen scheint?

Staaten, die bisher nicht bei der NATO sind (zum Beispiel Finnland) wollen jetzt in die NATO.   Die östlichen NATO-Staaten rüsten massiv auf.   Europa allgemein wird jetzt den amerikanischen Klagen nachkommen und aufrüsten.

Russen allgemein und Putin speziell werden auf der Weltbühne auf unabsehbare Zeit wie Aussätzige behandelt werden. Mit Sicherheit können China und manch andere Staaten ein wenig kompensieren, aber so einfach, schnell und allumfassend wird das auch nicht gehen.

Europa wird nun tatsächlich möglichst schnell danach trachten, von russischem Öl und Gas wegzukommen, koste es was es wolle.

In der Opposition gegen die russische Aggression rückt Europa jetzt auch eher wieder zusammen. Angeblich wollte Putin ja immer Europa spalten.

Ukraine wird zu einem Stachel im Fleisch werden, der so schnell nicht aufhört, weh zu tun. So wie sich die Ukrainer dort aktuell wehren, hat man nicht den Eindruck, dass die sich einen russischen Marionettenpräsidenten vorsetzen lassen und das einfach so hinnehmen werden. Bisher war - außer im Osten - wenigsten Ruhe im Karton, das wird wohl unter einer russischen Herrschaft nicht so bleiben.

Putin hat im eigenen Land hohe Zustimmungswerte, ich bin mir nicht sicher, ob das so bleiben wird.   To be continued...


Wäre er bei der Salamitaktik geblieben, der Ukraine scheibchenweise Territorium abzuzweigen, dann wäre das wahrscheinlich noch eine Weile erfolgreich gewesen. Vermutlich hätte kaum jemand nach ernsthaften, wirklich schmerzhaften Sanktionen wegen eines Streifen Landes an der Grenze Ukraine/Russland gerufen.

Man (= der Westen) hätte die "rote Linie" immer wieder neu definieren müssen, dabei in Wahrheit immer mehr Gesicht und Argumente verloren... Das hätte Russland schleichend immer mehr gestärkt, den Westen vorgeführt. Aber einfach ein ganzes Land bombardieren? Nein, sorry, das geht nicht.*)

So wie es aktuell aussieht, wird Russland aus dieser Eskalation NICHT stärker, sicherer und respektierter hervorgehen. Im Gegenteil.

Also entweder verfolgt Putin eine Strategie, die wir alle nicht verstehen. Oder er hat sich verkalkuliert. Oder den Verstand verloren.



Kann mich jemand erleuchten?

Letzteres macht mir am meisten Sorgen, denn was hindert ihn, falls die Dinge nicht in seinem Sinn verlaufen, die Nerven weg- und eine Atombombe zu werfen? Nach dem Motto: Ich krieg meinen Schädel nicht durchgesetzt, also ist es eh schon wurscht, ich zeig's euch?


Jetzt fühle ich mich plötzlich unverhofft in einer emotionalen Verfassung wieder, in der ich mit dem Ukrainern mitzittere und einerseits hoffe, dass sie möglichst lang durchhalten, andererseits ist mir bewusst, dass es dann besonders viele Opfer geben wird.

Waffen in einen Konflikt zu schicken, macht die Welt nicht friedlicher, aber kann man sich das Bitten und Flehen der Ukrainer vor Ort anschauen, ohne den Wunsch zu haben, ihnen zumindest zu ermöglichen, sich selbst zu helfen? Es ist etwas anderes, zur Waffe zu greifen, wenn einem das Haus zerbombt wird, als wenn man in ein fernes Land "Demokratie exportieren" will. (Die Häuser dort gehören auch wem, schon klar.)

Auch bin ich ein großer Fan unserer Neutralität, aber kann man schulterzuckend dabei zuschauen, wie ein übermächtiger Gegner einen kleinen Nachbarn überfällt und ihm seinen Willen aufzwingt? Und heißt Neutralität auch, dass man keine eindeutige Meinung haben kann/sollte?

Ich war beispielsweise noch vor einer Woche der Meinung, dass es irre sei, North Stream 2 jetzt nicht in Betrieb zu nehmen, während die amerikanischen Gaslieferanten das Geschäft ihres Lebens machen. Allerdings hat sich meine Meinung dazu radikal geändert.

Mich hat Putin durch diese Aggression also nicht nur "verloren", sondern sogar in die andere Richtung radikalisiert. Und wenn es MIR so geht, dann gehe ich davon aus, dass ich nicht die einzige bin. Es wird das Zaudern und Zögern und Verständnis haben also deutlich reduziert werden.

Wenn man schon nicht militärisch helfen kann (und auch nicht sollte, bitte versteht mich nicht falsch!), dann kann man doch ausdrücken, dass man das richtig Scheiße findet, oder? Niemand rechnet damit, dass Sanktionen kurzfristig etwas ändern, aber eine andere Möglichkeit gibt es eben nicht, um so eine Aktion möglichst teuer zu machen.

Übrigens auch als Abschreckung gegen ähnliche Ambitionen am anderen Ende der Welt (siehe China und Taiwan).

Zumindest sollte sich der Aggressor irgendwann fragen müssen: War es das wirklich wert?


Es gäbe noch einiges anzusprechen, aber das erspare ich mir hier, zum Beispiel Flüssiggas-Lieferungen aus den USA, von denen ich überhaupt nichts halte, aber mangels Alternativen wird man da vermehrt drauf zurückgreifen (müssen), vielleicht wird sogar Fracking in Europa jetzt wieder ein Thema. Was auch immer die Auswirkungen dieses Krieges in den nächsten Jahren sein werden, die Umwelt wird davon nicht profitieren, soviel steht fest.

Und mit Sicherheit werden die Reichen noch reicher werden und die Armen immer mehr.


So, und jetzt am Ende noch ein Hinweis: Das erste Opfer des Krieges ist bekanntlich die Wahrheit. Es geistern Fotos und Videos von zerstörten Panzern und Flugzeugen durch das Internet, von Kriegsgefangenen, von Toten und Särgen, und viele viele Meldungen, die von Betroffenen und Propagandisten beider Seiten und von unbeteiligten Wichtigtuern verbreitet werden.

Bitte wirklich ALLES mit der nötigen Skepsis beurteilen und im Zweifelsfall erst einmal nicht glauben. Speziell Bildmaterial wird erfahrungsgemäß aus alten Konflikten, Militärübungen und sogar Computerspielen entliehen und umettiketiert. Es werden auch von beiden Seiten bewusst falsche Informationen über Opfer und Gewinne/Verluste gestreut, und inmitten solcher Kampfhandlungen ist es wahrscheinlich auch ehrlichen Beobachtern kaum möglich, zu belastbaren Informationen zu kommen.

Wenn etwas "to good to be true" erscheint oder extrem abscheulich, dann würde ich es im Zweifelsfall erst einmal nicht glauben, vor allem, wenn man dazu nur eine einzige, bis dato völlig unbekannte Quelle findet. Ernsthafte Journalisten prüfen zuerst einmal nach, ob etwas stimmen kann, und falls das nicht möglich ist, wird es entweder nicht veröffentlicht, oder mit einem Hinweis versehen, dass die Information nicht bestätigt ist.

Hier auf orf.at findet sich übrigens ein aufschlussreicher Artikel darüber, was es mit den Nazis in der Ukraine auf sich hat.

Zum Beispiel habe ich gestern nicht herausfinden können, ob an der Meldung, dass Erdogan den Bosporus für russische Kriegsschiffe gesperrt hat, was dran ist. Wenn man "erdogan bosporus" googelt, dann erscheinen abwechselnd Meldungen, die für oder wider behaupten. Das Handelsblatt (die erste Quelle, die sich dazu äußert, die mir als Laie verlässlich erscheint) dementiert. Allerdings ist die Meldung jetzt (Sonntag Mittag) auch schon fast 20 Stunden alt.

"Lügenpresse" - Schreier erreiche ich mit diesem Apell natürlich nicht, aber auch der unbedarfte interessierte Durchschnittsbürger kann sich da leicht verrennen, vor allem dank WhatsApp-, Facebook- und Twitter - Nachrichten.

Genau wird man sowieso erst im Nachhinein sagen können, was wirklich war.

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*) Und ja, das haben die US-Amerikaner im letzten halben Jahrhundert auch immer wieder gemacht, und ich habe das hier oft und lautstark kritisiert, und tue das immer noch. Aber ein Unrecht rechtfertigt nicht das andere, und außerdem ist uns das Hemd immer näher als die Hose, und die ukrainische Grenze ist kaum weiter weg von mir als der Bodensee. So.


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Einige links zu vergangenen Texten, der Vollständigkeit halber:

10.02.2015 USA, Russland, der Dollar, Ressourcen
07.03.2015 Obama, Russland, Zündeleien
24.10.2015 Demokratie exportieren, amerikanische "Diplomatie"
23.12.2016 Varoufakis über Putin
06.01.2017 Putin - Provokation und Besonnenheit


In einigen dieser Beiträge gibt es Verweise auf Interviews, die Ken Jebsen seinerzeitgemacht hat. Da der Kanal inzwischen deaktiviert wurde, funktionieren diese nicht mehr. Ich bin übrigens auf eine 6-teilige podcast - Serie gestoßen, die sich mit dem Aufstieg und Fall des Ken Jebsen beschäftigt: Sehr informativ!

radioeins.de: "Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?"


 
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