25.06.2022 |
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Auf folgendem Inhalt hocke ich irgendwie auch schon seit längerem,
andererseits hat sich durch weitere Lektüre der Blick verbreitert,
also ist es wahrscheinlich gut, dass ich gewartet habe.![]() Was wir uns hier im Westen bezüglich Russland (und der ehemaligen Sowjetunions-Länder) gedacht haben, war eigentlich relativ offensichtlich Schönfärberei. Diejenigen, die sich eingehend mit den Vorkommnissen befasst haben, vor allem, weil sie direkt betroffen sind/waren, haben versucht, es "uns" (= Westen, EU) zu sagen, kamen aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht durch. Am erschütterndsten ist das Buch von Anna Politkovskaya "A Russian Diary" (posthum 2007 erschienen), das in den Jahren 2003 - 2005 entstanden ist, in dem schon vor fünfzehn Jahren erkennbar hätte sein sollen, wes Geistes Kind Wladimir Putin ist, und in welche Richtung es geht. Ich habe einige Zitate aus dem Buch abgeschrieben, Übersetzungen schenke ich mir, diverse online-tools sind mittlerweile auch ganz brauchbar. 4 der 5 Bücher in der Abbildung habe ich schon gelesen, nur Serhii Plokhis "The Gates of Europe" steht noch aus: Was einem vor allem bewusst wird, wenn man Texte von ukrainischen Autoren liest, ist das mir/uns eigene Unvermögen, die sprachlich-kulturelle Situation in der Ukraine (vor dem Krieg) nachvollziehen zu können. In den westlichen Medien werden wie selbstverständlich "Russischsprachige" mit "Russisch-stämmigen" oder "ethnischen Russen" gleichgesetzt, was überhaupt nicht der Realität entspricht. Ein Großteil der Ukrainer ist zweisprachig zumindest insofern, als dass die jeweils andere Sprache verstanden wird, was im Alltag zu zweisprachigen Unterhaltungen führt, die anscheinend so selbstverständlich sind, dass sie niemandem auffallen. Viele Ukrainer sind in der Vergangenheit deshalb russischsprachig erzogen worden, weil Ukrainisch lange Zeit als Sprache der Bauern, der Unterschicht wahrgenommen wurde, was vor allem auch unter russischer Herrschaft forciert wurde. Daher gab es viele Kinder eigentlich ukrainischsprachiger Eltern, deren Muttersprache russisch ist, auch weil es in vielen Schulen keinen Unterricht auf ukrainisch gab ("Russifizierung"). Dieser sehr weitreichenden Russisch-Sprachigkeit ist auch zu "verdanken", dass es nicht viele Bücher und Filme gibt, die überhaupt ins Ukrainische übersetzt bzw. synchronisiert werden/wurden, weil "die eh alle russisch auch können". "Russischsprachig" und "Russisch-stämmig" sind also überhaupt nicht deckungsgleich. Ganz abgesehen davon, dass sich auch viele "russisch-stämmige" Personen trotzdem als "ukrainisch" wahrgenommen haben, auch vor dem Krieg schon. Es ist also alles wesentlich komplizierter und vielschichter, als wir im Westen uns die Mühe gemacht haben, zu verstehen. Nun aber zu Anna Politkovskaya, einer russischen Journalistin/Aktivistin, die sich schon sehr früh sehr kritisch gegenüber Putin äußerte und das mit dem Tod bezahlte, wie viele andere Kreml-KritikerInnen auch. Sie wurde am 7. Oktober 2006, just an Wladimir Putins 54. Geburtstag, erschossen. Sie wäre jetzt 64 Jahre alt; was sie wohl zu Russland im Jahr 2022 zu sagen hätte? (Das erscheint mir auch eine passende Stelle zu sein, um den Film "Nawalny" zu empfehlen, da wird einem auch anders beim Anschauen!) Ihr Buch straft der Erzählung Lügen (der auch ich aufgesessen bin), dass Putin zu Beginn seiner Amtszeit ein anderer war, dass er sich im Lauf der Jahre nach Enttäuschung durch den Westen negativ verändert hätte. Sie beklagt schon 2003/2004 das systematische Hintertreiben von freien und fairen Wahlen, das Hinarbeiten auf die Installierung des ewigen Herrschers. Schon damals - wie heute - wurden Dissidenten zum Schweigen gebracht, schon damals wurde die Vision eines neuen russischen Großreiches hochgehalten (von "Wladiwostok bis Lissabon" war anscheinend als Drohung gedacht, nicht als europäische Vision der Einigung). In den Köpfen der Anhänger dieser Vision (unter ihnen auch Philosophen und Historiker) ist Russland ein in der Geschichte einzementiertes Gebilde, unveränderbar, rückwärtsgewandt. Die Instabilität, die freie Wahlen mit sich bringen, sind ein Gräuel, ebenso Lebendigkeit und Vielfalt. Russland ist grundsätzlich Opfer, nie Aggressor, immer werden eigene Schandtaten ausgeblendet. Wenn Russland Gewalt anwenden muss, dann immer nur, weil es nicht anders geht, weil es provoziert oder nicht respektiert wurde, weil es sich selbst schützen muss. [Update 26.06.: Kriegsverbrechen, Gewaltexzesse, Folterungen, Vergewaltigungen,... wurden (und werden) nicht aufgearbeitet und geahndet, sondern sogar mit Auszeichnungen belohnt, siehe dazu den haarsträubenden Artikel des russischen Historikers Sergej Medwedew.] Der zweite Weltkrieg beispielsweise beginnt in der Erzählung mit dem Angriff Hitlers und der heldenhaften Verteidigung des Vaterlandes ("Großer Vaterländischer Krieg"). Dass Stalin vor 1941 einen Pakt mit Hitler hatte und seinerseits Ostpolen, die baltischen Staaten und Teile Rumäniens besetzt hatte - als Aggressor - wird bequemerweise ausgeblendet. Der Sieg über die Nazis wurde zu DER Erzählung hochstilisiert, über die sich das heutige Russland definiert. [Update 26.06.: In den Neunziger- und frühen Zweitausenderjahren gab es Bemühungen, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, aber Putin hat seither systematisch daran gearbeitet, das Rad der Zeit wieder zurück zu drehen, wie man beispielsweise am Schicksal von "Memorial" sehen kann. Siehe dazu auch den brandaktuellen profil-podcast mit der Historikerin Irina Scherbakowa, einer der Mitbegründerinnen der Menschenrechtsorganisation.] Als "Nazi" wird übrigens jeder bezeichnet, denn man als "Anti-Russen" wahrnimmt, und das beschreibt im Zweifelsfalll alle, die sich nicht für eine "Russifizierung" begeistern können, die offen Kritik üben, die anders sein wollen, die sich lieber außerhalb dieser glorreichen "Gemeinschaft" der Russen sehen. Das Individuum ist irrelevant, das Gesamtgebilde zählt. Ich habe Anna Politkovskayas Buch zum Teil nur überflogen, denn es gibt sehr viele Details über konkrete Debatten, Ereignisse, Personen, die mir alle nichts sagen und die ich entsprechend nicht einordnen kann. Aber was sich Seite um Seite wie eine dunkle Wolke um einen legt, ist ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Verzweiflung am eigenen Volk. Sie beklagt die Apathie, und beschreibt die Leidensfähigkeit, dass alles erträglich scheint, solange es jemand anderem schlechter geht. Irgendwie möchte man vielleicht schon Veränderung, aber man erwartet, dass sie über einen hereinbricht. Sogar bei Referenden, die lokale Fragen betreffen, und wo es wirklich etwas mitzubestimmen gäbe, sind Wahlbeteiligungen unterirdisch gering. Immer wieder wird von Gräueltaten und unerhörten politischen Manövern berichtet, mit dem Zusatz: Und das Volk schweigt. Da werden in großem Stil - vor allem im Zusammenhang mit Tschetschenien - von maskierten Spezialeinheiten Menschen entführt und ermordet, ohne Konsequenzen. Das betrifft unliebsame Politiker, mutmaßliche Terroristen, Aktivisten, einfache Leuten, die irgendwie auffällig wurden. Es gibt Gerichtsverhandlungen, die eine Farce sind, und das Volk schweigt. Es gibt Geschäftpraktiken, die sogar Mord beinhalten (zb "warm abtragen" von Häusern/Wohnungen von begehrten Grundstücken, wenn die Bewohner nicht freiwillig gehen), die nicht geahndet werden. Proteste werden entweder ignoriert (von Politik und Medien unsichtbar gemacht), oder gekauft, oder niedergeschlagen. Es ist eine deprimierende Lektüre.
Worüber sie sich auch Sorgen macht: Dass sich Russen leicht von der faschistischen Idee "Russia for the Russians" begeistern lassen:
Und später:
Auch Ramsan Kadyrow kommt im Buch vor - wir kennen ihn spätestens seit seiner
Diesen Satz muss ich hervorheben: "Das wird viele Leben kosten. Ramsan ist praktisch hirntot, er ist nur in seinem Element, wenn Krieg, Terror und Chaos herrschen. Ohne das alles weiß er tatsächlich nichts mit sich anzufangen." ![]() Man erfährt einiges über die Zeit zwischen 2014 (Maidan und Krim-Annexion) und 2022, aber auch über das Leben davor und geschichtliche Hintergründe. Besonders das zweitgenannte Buch erzählt aber auch Geschichten aus dem Alltag und hilft einem ein wenig, den Mindset der Ukrainer besser zu verstehen. Diese beiden Werke sind weniger düster als "Russian Diary" und "The Road to Unfreedom" und trotz allem hoffnungsvoll und in die Zukunft schauend. Was auf jeden Fall stark auffällt ist die Fähigkeit der Ukrainer, Selbstkritik zu üben, eigene Fehler zu erkennen und der Wille, sich zu verbessern. Es ist ein echtes Kontrastporgramm zu Anna Politkovskayas Hoffnungslosigkeit. Und zum Abschluss noch ein Zitat aus Timothy Snyders Buch "The Road to Unfreedom". (Timothy Snyder, ein amerikanischer Historiker, ist nicht ganz unumstritten, weshalb ich ihn hier nur am Rande erwähne.) Das Zitat ist zwar dem oben genannten Buch entnommen, der Autor zitiert seinerseits jedoch den Reporter Charles Clover. Leider trifft dieses Phänomen nicht nur auf die russische politische Klasse zu, sondern scheint eher dem "Handbuch für angehende Alleinherrscher" entnommen zu sein, denn es ist zum Beispiel auch unter Trumps Anhängerschaft zu beobachten, und leider nicht nur dort.
Also: Je offensichtlicher und unverschämter die Lüge, umso mehr demonstriert man seine Loyalität, indem man sie schluckt. Vielleicht steckt diese lange eingeübte Gewohnheit auch hinter all den Lügen, die der Kreml jetzt so unverblümt in die Welt posaunt. Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem nicht zumindest eine Ansage kommt, bei der man sich nur fassungslos fragen kann: Glauben die wirklich, dass das jemand glaubt? |
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