24.11.2017 |
Das Hockeystick-Dilemma, oder: Ganz oder gar nicht? |
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Es gibt in meinem Leben immer wieder Momente, da bin ich regelrecht elektrisiert
von einer Erkenntnis, nur um dann festzustellen, dass das eigentlich ein
"no na!" - Moment war. Aufschreiben wirkt oft besonders ernüchternd.![]() Was ich hiermit mache. Vorweg eine Erklärung zum "Hockeystick": Es handelt sich dabei um ein Diagramm, das eine exponentielle Kurve zeigt, wie im Bild zu sehen ist: Dieses Diagramm (wiki, dt.) - oder besser gesagt die Referenz zum Hockeyschläger - wurde Ende der 90er Jahre berühmt, weil der Klimatologe Michael Mann (wiki, dt.) es benutzte, um damit die Klimaerwärmung zu verdeutllichen. Aber hier soll es nicht ums Klima gehen oder um das Bevölkerungswachstum oder andere Probleme, auf welche diese Kurve ebenso anwendbar ist. Die kurze Erklärung des Graphen: Zuerst ist lange kaum eine Veränderung feststellbar, aber dann plötzlich explodiert sie förmlich. Ich habe beobachtet, dass man diese Kurve aber auch auf alltägliche Angelegenheiten anwenden kann, und zwar als Input/Outcome - Verhältnis (senkrechte Achse = Aufwand, waagrechte Achse = Erfolg), zum Beispiel bei Themen wie Müll- oder Plastikvermeidung, aber auch "regionale Ernährung" und andere. Was das Diagramm zeigt und meine Erfahrung bestätigt: Es ist am Anfang relativ leicht, schnelle Erfolge einzufahren bzw. deutliche Verbesserungen oder Einsparungen zu erreichen, zum Beispiel beim Vermeiden von Müll oder bei der Umstellung auf eine regionale, saisonale Ernährung: Man verwendet Einkaufstaschen oder -körbe, statt jedes Mal Plastiksackerl mit nach Hause zu nehmen, man kauft lieber offen angebotenes Gemüse als fertig verpacktes, man besorgt sich das saisonale Obst und Gemüse am Bauernmarkt und vermeidet verschwenderisch verpackte Fertiggerichte. Das ist ein nicht allzugroßes Mehr an Aufwand (blaue Achse), befördert einen aber auf der rosa Achse (Erfolg) deutlich nach rechts (1). Es kommt aber bei fast all diesen Vorhaben irgendwann der Punkt, an dem man sich unweigerlich fragt, ob sich der vermehrte Aufwand noch lohnt - das ist auf unserem Diagramm der Moment, an dem die Kurve stark anzusteigen beginnt (2): Will man tatsächlich alles Plastik aus seinem Leben verbannen (= 100%), ist das erstens praktisch so gut wie unmöglich, denn viele Alltlagsgegenstände (Handy, Computer, jegliche Isolierung bei elektrischen Geräten,...) sind zumindest teilweise aus Kunststoff gefertigt. Zweitens wird der Aufwand so hoch, dass man bald für die restlichen Dinge seines Lebens keine Zeit mehr hat, weil man beispielsweise jede freie Minute mit der Suche nach den perfekten plastikfreien Alltagsgegenständen verbringt oder stundenlange Fahrten in Kauf nimmt, um zu seinen "erlaubten" Waren zu kommen, oder an finanzielle Grenzen stößt. Und drittens kann es durchaus sein, dass man Nachteile erleidet oder sich in Absurditäten verwickelt, die eigentlich nicht mehr rechtzufertigen sind: Wenn man sich in der Produktauswahl beispielsweise nur noch an der Verpackung orientiert und dafür Ursprung, Qualität und Inhaltsstoffe nicht mehr berücksichtigt oder entweder irre weite Strecken fährt, nur um "bio" einkaufen zu können oder Nahrungsmittel aus aller Herren Länder zusammenkauft, nur weil "vegan" drauf steht. Da kommt man sich mit seinen Ansprüchen auch gern selbst in die Quere: Ein Vermeidungsverhalten im einen Bereich (nur "bio" kommt auf den Tisch) verursacht oder verschärft ein Problem in einem anderen Bereich (lange Transportwege). Ähnliche Schwierigkeiten treten bei den meisten Problemzonen des heutigen Lebens auf, wie etwa bei der Müllvermeidung oder Konsumverweigerung allgemein, aber auch beim Versuch, einigermaßen "ethisch" einzukaufen (regional, keine großen Ketten, keine ausbeuterischen Praktiken,...), beim kritischen Umgang mit Fortbewegungsmitteln (Auto, öffentlicher Verkehr,...), bei Freizeitbeschäftigung und Urlaubsverhalten oder beim Energieverbrauch. Vieles, was vor kaum hundert Jahren noch Standard war - ohne Mehraufwand - ist heute quasi unmöglich (siehe Plastik). Davon ausgehend müssen wir uns ohnehin vom Perfektionsanspruch verabschieden und uns stattdessen um Schadensbegrenzung bemühen. Wie viele andere vermutlich auch, tappe ich immer wieder in die "Perfektionsfalle" (oder die "is eh schon wurscht" - Falle): Entweder ganz oder gar nicht. Ich bemühe mich und bemühe mich, habe aber das Gefühl, dass das alles nicht gut genug ist, und gebe irgendwann ganz auf, weil mir natürlich (mehr oder weniger) bewusst ist, dass ich nie wirklich "erfolgreich" sein kann. Wenn die 100% - Marke der Maßstab ist. Ja sicher, es gibt vereinzelt Menschen, die leben "Zero Waste" oder "Ohne Plastik", aber die haben dann zumeist auch ein Geschäftsmodell daraus gemacht, von dem sie Vollzeit leben, indem sie Voträge halten und Bücher verkaufen. Das ist für Otto-Normalverbraucher halt auch nicht alltagstauglich. Abgesehen davon, dass auch viele dieser Menschen sich in die Tasche lügen, denn oft wird das problematische Element ausgelagert (externalisiert) und damit aus dem direkten Blickfeld verbannt, nicht aber wirklich gelöst, denn auch wenn ich mein Obst und Gemüse nur unverpackt kaufe, wird in unzähligen Verarbeitungsschritten davor trotzdem Kunststoff aller Art Verwendung finden oder Müll produziert. Nur eben für mich unsichtbar. Aber gut, wir wollen ja nicht päpstlicher sein als der Papst - aber genau da liegt natürlich das Problem: Wo sind denn nun meine 100%? Jetzt bin ich halt generell ein Mensch, der oft in Extremen lebt - "gesundes Mittelmaß" ist nicht gerade meine Stärke. Das liegt einerseits daran, dass ich zur ökonomisch immer uninteressanter werdenden Gattung der "Generalisten" gehöre mit einem eher kurzen "Interessenszyklus" - ich interessiere mich oft sehr plötzlich und sehr intensiv für etwas, erreiche aber meistens relativ schnell einen Level an "Expertise", der mir persönlich genügt. Dann sticht mir etwas anderes ins Auge und der Zyklus geht von vorne los: Ganz oder gar nicht eben! Andererseits ist es aber auch so, dass sich an den extremen Enden Erfolg oder Mißerfolg leichter messen lässt: Wenn ich beispielsweise beschließe, mich rein vegetarisch zu ernähren, dann ist sehr klar, was geht und was nicht geht. Vereinbare ich allerdings mit mir selbst, künftig den Fleisch-/Wurstkonsum einzuschränken, wird das alles schon schwieriger zu messen und zu bewerten: Wo genau lege ich das ideale Maß fest, was ist zuviel? Wie vermeide ich, dass ich mir mein Verhalten im Nachhinein schönrede oder nach und nach abdrifte, ohne es zu bemerken? Wie gehe ich mit Ausrutschern um? Wann lasse ich "fünf auch mal grade sein"? So gesehen hat die "Ganz-oder-gar-nicht" - Methode durchaus ihre Existenzberechtigung, dort wo "Perfektion" mit einem sinnvollen Maß an Aufwand erreichbar ist. Allerdings komme ich langsam zum Schluss, dass das für die meisten alltäglichen Angelegenheiten nicht der Fall ist. Die gute Nachricht lautet aber: Gewisse Verbesserungen kann jede/r machen, egal in welchen Umständen man lebt, ohne großen finanziellen und zeitlichen Aufwand. Meistens genügt ein wenig Vorausplanung, was natürlich auch schon ein politisches Statement ist und ein Abweichen vom Mainstream in Zeiten von "instant gratification" (sofortige Belohnung, immer alles verfügbar) und einem "...to go" - Lifestyle. Besonders die "to go" - Verlockungen machen Vorhaben schwer: Ich kaufe beispielsweise meine Eier ausschließlich beim Bauern schräg gegenüber, wo ich die Hühner tatsächlich draußen herumlaufen sehe. Seit 2 Jahren, ohne Ausnahme. Das ist, wenn man das Glück hat wie ich, so einen Bauern in der Gegend zu haben, wirklich kein Aufwand. Aber: Wieviele Eier aus Legehennen habe ich konsumiert, während ich einen Donut aus dem Supermarkt verspeist habe, oder eine Pizza mit Ei im Restaurant im Ort oder Nudeln mit brav selbstgekochter Sauce? Und war mir des Problems dabei noch nicht einmal bewusst? [Übrigens eine erstaunliche Erkenntnis von vor ein paar Monaten, die sich im Nachhinein auch als "no na" - Moment entpuppt: Ich mache seit ein paar Jahren einen großen Bogen sowohl um Soja als auch um Palmöl, und da ich seit fast 15 Jahren fast ein wenig zwanghaft das Kleingedruckte auf Lebensmitteln lese, bin ich da auch sehr konsequent. Dachte ich. Bis ich dann festgestellt habe, dass in praktisch allen (herkömmlichen) Schokoladen Sojalecithin enthalten ist! WTF? War das früher auch so? Wie kann man nur einen so großen blinden Fleck haben???] Zurück zum eigentlichen Thema, für das ich leider auch keine Lösung anbieten kann. Stattdessen folgende lose Gedanken: 1. Wieder einmal Derrick Jensen:
2. Letztendlich muss man für sich einen gangbaren Weg finden, und das heißt konkret vermutlich, sich vom 100% - Ziel zu verabschieden. Lieber im Vorhinein "Ausrutscher" einplanen, als sich für jeden Lapsus schelten und dann irgendwann frustriert aufgeben. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Vorhaben so formuliere, dass ich praktisch nur scheitern kann: setting-up-to-fail (wiki, en), was interessanterweise eine anerkannte Form von Mobbing (wiki, en) am Arbeitsplatz ist. Ich weiß beispielsweise aus Erfahrung, dass alle hehren Ziele, was die Ernährung betreffen, bei mir früher oder später dann scheitern, wenn ich nicht mehr ohne Lunchpaket aus dem Haus gehen kann, weil ich praktisch nichts mehr, was es unterwegs zu kaufen gibt, essen kann - ob es nun an der Verpackung liegt oder an den Inhaltsstoffen oder am Preis oder am Prinzip (ethisch, regional, saisonal,...). Da ist es wahrscheinlich vernünftiger, die Regeln etwas weniger ehrgeizig so zu formulieren, dass man sie langfristig auch einhalten kann. Eine Leitlinie kann die 80/20 - Regel (Paretoprinzip) sein = Kurve (3) im Bild oben: Oft sind 80% der Ergebnisse mit 20% Einsatz erreichbar, während die restlichen 20% viel mehr Aufwand erfordern. 3. Ich habe anscheinend in der Vergangenheit folgenden Fragen nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet: Was ist das Ziel der Aktion eigentlich, was möchte ich erreichen? Woran kann ich erkennen, dass ich Erfolg habe? Was ist "gut genug"? Soll das langfristig funktionieren und was muss ich für den Fall des Falles (Unwägbarkeiten, Notfälle, sich ändernde Umstände,...) einplanen? Was sind möglicherweise unbeabsichtigte (soziale, zeitliche, organisatorische,...) Konsequenzen und kann/will ich diese (langfristig) in Kauf nehmen? Laufe ich Gefahr, mich für auferlegte Einschränkungen andernorts unbemerkt zu entschädigen (Rebound-Effekt)? Bin ich dabei, mich zum dogmatischen Griesgram zu entwickeln, in dessen Gegenwart sich andere unterlegen, kritisiert und unwohl fühlen? Oder laufe ich im Gegenteil Gefahr, in der bequemen Mittelmäßigkeit zu verkommen? Wie gehe ich mit den "militanten" Mitstreitern (Veganern, Müllvermeidern,...) um, die mir - anstatt positives Vorbild zu sein - ständig ein schlechtes Gewissen machen wollen? Tja. Da will man einfach nur ein paar Sachen richtiger machen, und dann sowas. Alles nicht so einfach. |
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