05.04.2016

Downhill

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  Michael Moore hat einen neuen Film gemacht: "Where to Invade Next" (imdb.com), also: Wo wir als Nächstes einmarschieren.

Gesehen habe ich ihn (noch) nicht, aber zahlreiche Reviews gelesen und ein paar Diskussionsrunden angeschaut mit Michael Moore.

Der Film ist für amerikanisches Publikum gemacht: Moore begibt sich auf eine Reise (hauptsächlich) durch Europa mit der Idee, einmal zur Abwechslung gute Ideen zu klauen, anstatt Öl oder andere Rohstoffe.

Und so erfährt er von bezahlten Urlaubswochen in Italien, gesundem Pausenessen in französischen Schulen, humanem Strafvollzug in Norwegen, vom beendeten "war on drugs" in Portugal, leistbare Universitäten überall in Europa und einem Schulsystem in Finnland, das die Kinder möglichst von Druck befreit und dabei beste Ergebnisse und glückliche Kinder erzielt.

Das sind meist Dinge, die für uns Europäer mehr oder weniger zur Normalität gehören (auch bezahlte "Siedeltage", 13. und 14. Monatsgehalt), für den verblüfften Amerikaner aber wie "Märchen aus 1001 Nacht" erscheinen. Weil der durchschnittliche Amerikaner nie die Gelegenheit bekommt, über den Tellerrand hinauszusehen - und durch die Medien nonstop suggeriert bekommt, dass die USA "the greatest country on earth" sei (= American Exceptionalism, zeit.de).


Was Michael Moore betrifft, bin ich so ein wenig hin- und hergerissen: Er hat halt schon das Auftreten von so einem "typischen Amerikaner", er übertreibt gern und erzählt oft nur eine Hälfte der Geschichte. In diesem Fall aber stellt er das auch von vornherein klar: Ja, diese Länder haben auch Probleme, aber er kommt, um sich die Rosinen herauszupicken - man klaut ja die guten Ideen, nicht das, was nicht funktioniert.

Ich habe dann ein paar "Interviews" gesehen, die mich versöhnt haben: Das Herz hat er am rechten Fleck, so wie es scheint.

92Y Reel Pieces with Annette Insdorf (youtube, en.)
NY Film Festival - HBO Directors Dialogue (youtube, en)


Die Sache ist die: Während ich mir das alles durch den Kopf gehen ließ, wurde ich immer trauriger. Denn was Michael Moore hier versucht, seinen Landsleuten anzupreisen, sind wir gerade dabei, über Bord zu werfen. So gesehen ist der Film vielleicht auch für uns Europäer gemacht: Um uns zu erinnern, dass wir auch viel Gutes hier haben, das wir bewahren sollten.

Denn die Realität ist leider: Anstatt unser Modell nach Amerika zu exportieren, schwappt das amerikanische System auf Europa über:

In Deutschland boomt seit der Agenda 2010 vor allem der Niedriglohnsektor, Hartz4 - Empfänger werden schikaniert und müssen fast alles hinnehmen, was ihnen vorgesetzt wird und werden dabei immer ärmer, in Österreich ist man dabei, unter anderem an der Mindestsicherung zu sägen, während das Schulsystem zu Tode "reformiert" wird, dank EU werden wir mehr und mehr von Konzernen und deren Lobbyisten regiert anstatt von gewählten Politikern, und von Griechenland rede ich erst gar nicht.

In der "Runde der Chefredakteure" (orf) wurde einstimmig die Agenda 2010 gelobt und eine Liberalisierung des österreichischen Arbeitsmarktes gefordert (zum Beispiel Ladenschlusszeiten,...).


Jeder Lebensbereich wird "durchkapitalisiert" - sogar das Benutzen einer Toilette ist kaum noch irgendwo gratis!

Früher wurde vieles in der Familie/Nachbarschaft gemeinschaftlich geleistet (Kinderbetreuung, Kranken- bzw. Altenpflege, Gärtnern, Haushalt,...) - mittlerweile gehen wir arbeiten, um das Geld zu verdienen, das wir benötigen, um für Kinderbetreuung, Kranken- bzw. Altenpflege, Haushaltsarbeiten, Nahrungsmittel,... bezahlen zu können.

Und wir merken nicht einmal, wie absurd das ist. Aber es ist gut fürs Bruttoinlandsprodukt, und nur das zählt.

Oder um es mit Tim Jackson's Worten zu sagen (Infobox Übersetzung):

"This is a story about us: People.

Being pursuaded
to spend money we don't have
on things we don't need
to create impressions that won't last
on people we don't care about."

Tim Jackson, TED Talk (en.)


Es gab eine Zeit, da träumte man davon, dass Maschinen uns die schwere Arbeit abnehmen und wir uns dann unserer Freizeit, den Künsten, der Philosophie,.. widmen könnten.

Aber damit würde sich ja nicht so besonders viel Profit machen lassen...

Und wenn man Menschen Zeit gibt, über Gott und die Welt nachzudenken, dann fällt ihnen auf, was ihnen fehlt und was ihnen wirklich wichtig ist. Dann sind sie schwerer zu manipulieren und zu kontrollieren.


Und so finden wir uns in einer "Müllerzeugungsgesellschaft" wieder. Wir erfinden, entwickeln, produzieren irgendwelches Zeug, damit Menschen Arbeit haben, durch die sie genug Geld verdienen, um das sinnlose Zeug, das sie produziert haben, auch kaufen zu können.

Wir leben also in einer Gesellschaft, die sich der Produktion von Müll verschrieben hat, die ihre bis zum Rasen gesteigerte Dynamik dem Müll verdankt, die ihre besten Kräfte und alle organisierte Arbeit dem Müll widmet und für die die Vermüllung konstitutiv ist. In unseren allergeordnetsten Verhältnissen sind wir Müllbewohner...

Wie lebt es sich in einer müllerzeugenden Gesellschaft? Was wird aus Menschen, deren Arbeit nicht nur zu nichts nütze ist, sondern schweren Schaden anrichtet?

(Buch Zeitwohlstand, S. 19)

Wirklich wichtige Dinge, wie zum Beispiel Nahrungsmittel, werden hingegen heftig subventioniert, denn wäre man gezwungen, den wahren Wert dafür zu zahlen, würden wir einen beträchtlichen Teil des Einkommes für Nahrung ausgeben - und hätten wesentlich weniger Geld zum "Verkonsumieren" übrig.

Und so haben wir beispielsweise heutzutage Maissirup (welt.de) - bei uns "Glucose-Fructose-Sirup" - überall drin, weil in den 70er Jahren damit angefangen wurde, amerikanische Farmer dafür finanziell zu belohnen, immer mehr und mehr Mais anzubauen. Zerstörte Böden und Existenzen, Übergewicht und Diabetes sind die Folge.

"Corn Fed Beef" (= Mastrind, vorwiegend mit Mais gefüttert) ist eines der am häufigsten verzehrten Nahrungsmittel in Amerika. Es macht die Rinder krank - und die Menschen, die diese essen. Aber es ist so schön wirtschaftlich rentabel, wen kümmert's, dass es nicht nur unethisch und ungesund, sondern auch hochgradig umweltschädlich ist.


Jetzt bin ich ein wenig vom Thema abgekommen, aber da eh alles zusammenhängt, doch wieder nicht. Um also den Bogen zu spannen: Wenn all der Wahnsinn dem Wachstum nicht mehr auf die Sprünge hilft, dann müssen eben die sozialen Errungenschaften eingestampft werden, um noch Profite generieren zu können.

Solange die Reichen noch ein wenig reicher werden können und die Mächtigen ihre Macht behalten, wen kümmert's, dass der Rest vor die Hunde geht?


Jetzt schon haben die meisten Menschen (im Westen) mehr Dinge als die nötige Zeit, sich selbigen zu widmen. Mehr Kleidung als man tragen kann, mehr Fernsehgeräte als Zimmer, mehr Autos als Familienmitglieder,... Wohin sollen wir noch wachsen?

Jeder Lebensbereich ist durchoptimiert, katalogisiert, automatisiert - und trotzdem hat der Tag nur 24 Stunden. Das ist der wirkliche Engpass heutzutage: Zu wenig Zeit, um all das zu konsumieren, was möglich und leistbar wäre. Und das, obwohl wir uns schneller fortbewegen denn je, alles prompt zu Verfügung haben (Fast Food, Coffee to Go) und kaum mehr etwas selber machen müssen.

Wohin kommt nur die so (angeblich) eingesparte Zeit?

"Zeit ist Geld": Was für ein Unsinn. Zeit ist NICHT Geld. Geld ist ein Konstrukt unser Zivilisation und nur etwas wert, weil wir daran glauben. Zeit ist in Wahrheit das wertvollste Gut jedes einzelnen - vor der Zeit sind alle Menschen gleich, sozusagen:

Egal ob arm oder reich: Der Tag hat für jeden von uns 24 Stunden. Auch wenn wir es im Alltag so empfinden: Zeit kann man nicht stehlen. Dass wir sie verkaufen, ist wohl die wirkliche Tragödie unserer Tage.

Spätestens seit Momo wissen wir: Das mit dem Zeitsparen, das klappt so nicht. Zeit muss man sich nehmen.

Was auch nicht ganz richtig ist. Man muss wahrnehmen. Die Gegenwart nämlich. Denn weder Vergangenheit noch Zukunft sind erlebbar.

Erleben können wir immer nur in der Gegenwart: Jetzt.

Und jetzt.

Und jetzt.


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